Seit fast einem Jahr begleite ich eine 90-jährige Dame in einem Seniorenheim. Zweimal in der Woche sitze ich für eine Stunde an ihrem Bett. Das Besondere: sie kann sich nicht mehr verständlich artikulieren.

Bei einem meiner ersten Besuche meinte ich, das Wort „Schneegebirge“ verstanden zu haben, mehr gesungen als gesprochen. Wieder zu Hause, gab ich „Schneegebirge“ in die Suchmaschine ein. Und – siehe da! Es gibt ein altes schlesisches Volkslied „Und in dem Schneegebirge“. Das konnte passen, denn ich wusste, dass die Dame in Schlesien aufgewachsen ist.

„Wenn ich doch nur singen könnte!“, dachte ich. Seit mein Musiklehrer mir unmissverständlich zu verstehen gab, dass ich besser den Mund halte, hatte ich nicht mehr gesungen. Und nun begleitete ich einen Menschen, den ich mit einem Lied vielleicht erreichen konnte.

Wenn ich allein zu Hause war, übte ich immer mal wieder diese Melodie. Schließlich versuchte ich es zuerst mit Summen. Und tatsächlich merkte die Dame auf und bewegte an einigen Stellen die Lippen. Also traute ich mich beim nächsten Mal zu singen. Ich bin wahrlich keine gute Sängerin, aber Frau R. erkannte die Melodie. Wie schön – für uns beide.

Inzwischen habe ich mir ein ganzes Repertoire „ersungen“: jahreszeitliche Lieder, Kirchenlieder, Schlaflieder… An ihren gelegentlichen Lippenbewegungen konnte ich ablesen, ob sie ein Lied kennt (und mag). Und auch wenn sie inzwischen meistens mit geschlossenen Augen daliegt, erkenne ich an kleinen mimischen Regungen, dass sie mich hört. Die Lieder schaffen eine große Nähe und Vertrautheit zwischen uns.

Und ich? Ich verlasse summend das Seniorenheim und singe im Auto und zu Hause weiter…

Ulrike Jürgens