In jeder Senioreneinrichtung das gleiche Bild: wenige Männer, viele Frauen – unter ihnen vermutlich viele Mütter.

Frau B. hat es gut. Sie bekommt jeden Nachmittag Besuch. Ihre Tochter wohnt im Nachbarort und kommt nach der Arbeit zu ihrer Mutter. Die beiden sitzen nebeneinander, die Mutter im Rollstuhl, die Tochter auf einer Couch – reden und schweigen miteinander.

Frau K. kommt zweimal in der Woche ihre Mutter besuchen. Für sie ist es immer ein ganzer Nachmittag, wie sie erzählt. Sie ist auf den Bus angewiesen, der nur einmal in der Stunde fährt, und muss dann noch umsteigen. Aber das macht sie gern. Die Mutter zu Hause pflegen, nein, das könnte sie sich nicht vorstellen. Und was hätte die Mutter von einer überforderten und gereizten Tochter…

Bei Frau L. wechseln sich der Sohn und die Tochter mit den Besuchen ab. „Na, Mütterchen…“ höre ich den Sohn die Mutter liebevoll begrüßen. Er kommt mehrmals in der Woche zusammen mit seiner Frau, obwohl seine Mutter seit über einem Jahr im Bett liegt und sich kaum noch äußert. Er gesteht, dass sie zunehmend deprimiert sind, wenn sie nach Hause fahren. Und sein Bruder, erzählt er, der kann es nur schwer ertragen, die Mutter so krank und hilflos zu sehen; er kommt nur noch selten.

Frau J. – auch eine Mutter. Sie zeigt mir Fotos von einer fröhlichen jungen Frau, ihrer Tochter. Sie ist mit 35 Jahren bei einer Operation gestorben. Und sie, sie muss so alt werden…

Ja, und dann gibt es die Mütter, deren Kinder kommen könnten – wenn man sich nicht entzweit hätte. Frau M., die eine Rechnung mit ihrem Sohn offen hat und wider alle ärztliche Einschätzung nicht zum Sterben kommt; Frau F., die unter dem Streit mit ihrem Sohn still vor sich hin leidet.

Heute ist Frau S. gestorben. Ihre Tochter – sie war in den letzten Stunden an ihrer Seite – blickt mich durch einen Tränenschleier an. Sie zuckt jedes Mal zusammen, wenn eine Stimme „Mama!“ ruft.

Diese Stimme, sie kommt von Frau G. Die alte Frau sitzt in einem Sessel, eine Puppe auf dem Schoß, und ruft immer wieder nach ihrer Mutter. Mutter – der Inbegriff für körperliche Nähe und Wärme, Geborgenheit, Schutz, Trost, Liebe…

Ulrike Jürgens