Meine nächste Begleitung ist Herr P. Ich rufe ihn an, vereinbare einen Tag, eine Uhrzeit und fahre los.

Soll ich was mitnehmen?
Eine Blume?
Für einen alleinstehenden Mann?
Mag er Blumen?
Hat er überhaupt eine Blumenvase?
Wird ihm die Pflege vielleicht zu viel?

Voller Ungewissheit fahre ich los und nehme nichts mit. Ich bin ja da. Vielleicht reicht das.

Wir stellen uns vor. Wir kennen uns nicht, aber bei jedem der kommenden Besuche begegnen uns in seinen Erzählungen Menschen, die wir beide gut kennen. Wir finden das faszinierend, staunen, lachen, tauschen uns aus.

Beim Erstbesuch beichte ich meine Unsicherheit, ob ich eine Rose aus meinem Garten mitbringen sollte. Herr P. sagt: „Schauen Sie sich um, ich habe Pflanzen“, und tatsächlich stehen Astern für die Herbstbepflanzung auf dem Balkon.

Ab jetzt gibt es bei jedem wöchentlichen Treffen eine rote Rose aus meinem Garten. Als Herr P. mit seinem Pflegebett ins Wohnzimmer umziehen muss, zieht auch die Rose mit um. In einer schönen alten Kristallvase hält sie jedes Mal die Woche durch, manchmal auch länger.

Als es Herrn P. schlechter geht, besuche ich ihn auch am Wochenende.

Ein wunderschöner Spätsommertag. Ich beschließe, eine Radtour mit dem Besuch bei Herrn P. zu verbinden. Die Rose liegt vorne im Fahrradkorb und wird vom Gegenwind ganz schön zerzaust. Als ich ankomme, steht ein Pkw mit offener Heckklappe vor dem Haus. Oh, denke ich, vielleicht bekommt Herr P. heute seinen Rollstuhl. Er wollte so gerne noch mal nach draußen. Doch weit gefehlt! Neben der Haustür lehnt ein Sargdeckel, und auf den fünf Stufen zu seiner Wohnung steht ein leerer Sarg.

Ich klingele. Zwei Bestatter kommen aus seiner Wohnung. Ich stelle mich als seine Hospizbegleiterin vor. Gern möchte ich mich von Herrn P. verabschieden. Ich hatte ihm doch wieder eine Rose versprochen… Die Bestatter bitten mich um etwas Geduld und gehen in die Wohnung zurück.

Die Nachbarin setzt sich zu mir auf die Bank. Wir tauschen uns über den Verstorbenen aus. Zehn Minuten später ist Herr P. aufgebahrt. Im Treppenhaus. Die Bestatter sagen mir Bescheid: Jetzt sei die Zeit für den Abschied da. Die Nachbarin flüchtet. Ich gehe ins Treppenhaus. Herr P. bekommt seine letze Rose. Ich bedanke mich für die vielen Geschichten, bin traurig und erfüllt zugleich, aber besonders froh, dass ich einen Abschied haben darf. Eine Stunde später wäre er nicht mehr da gewesen. Als die Nachbarin merkt, dass ich gar nicht in die Wohnung ging, sondern alles im Treppenhaus stattfindet, kommt sie zurück. Sie möchte doch auch Abschied nehmen.

So hatte der alleinstehende Herr P., der übrigens aussah wie Dr. Schiwago, gleich zwei Frauen, die sich von ihm verabschiedeten. Und in seinen Händen eine Rose für seinen letzten Weg.

Ich war froh, mit dem Fahrrad da zu sein. Der Rückweg gehörte unseren gemeinsamen Geschichten.

Helga Hoffmann