Frau G. habe ich auf der Palliativstation des Klinikums kennen gelernt. Viele Stunden lang hat sie mir erzählt: von ihrer schwierigen Kindheit, von ihrem verstorbenen Mann, der Tochter und den vier Enkelkindern.
Ein wiederkehrendes Thema war ihre Krankengeschichte und die Frage, wie es weitergehen soll, was auf sie zukommen wird.
„Wäre es nicht gut, wenn Sie sich mal mit einem Seelsorger austauschen könnten?“, frage ich sie, als wir wieder einmal auf dieses Thema kommen. Nach einer Pause sagt sie: „Wozu ein Seelsorger? Sie sind doch da. – Vielleicht komme ich ja noch einmal nach Hause. Sind Sie dann auch für mich da?“
Tatsächlich wird sie einige Tage später entlassen, in ihr gemütliches Haus, das sie nach dem Tod ihres Mannes allein bewohnt. Der Pflegedienst kommt zweimal am Tag, mittags wird Essen gebracht, die Hausärztin meldet sich, SAPV und Palliativärztin sind eingeschaltet, ihre „Putzfee“ geht einkaufen und hält alles in Ordnung. Am liebsten wäre es Frau G., wenn ich jeden Tag käme. Wir einigen uns auf zwei Nachmittage, die Tage, an denen ihre Fee nicht kommt.
Während meiner Besuche klingelt manchmal das Telefon. Obwohl Frau G. es neben sich liegen hat, nimmt sie keinen der Anrufe an. Aufmerksam hört sie mit, was die Anrufer auf Band sprechen. „Sie können gern die Anrufe annehmen, auch wenn ich hier bin. Es ist doch schön, wenn sich jemand nach Ihnen erkundigt“, ermuntere ich sie. Es ändert sich nichts. Nach jedem Anruf begleitet uns das Piepen des Anrufbeantworters, bis ich gehe.
Frau G. wird schwächer. Das Aufstehen fällt ihr schwer. So bittet sie mich nach einem Anruf, den sie wohl nicht richtig verstanden hat, ich möchte am Gerät die Wiederholungstaste drücken. Das mache ich gern, erwische aber die falsche Taste – und höre: „Sie haben 46 Nachrichten.“ Schnell aktiviere ich mit der anderen Taste die neue Nachricht, die sie noch einmal hören wollte.
46 Nachrichten? Ich vermute, dass Frau G. nicht weiß, wie sie Nachrichten löschen kann. Also biete ich ihr an, dass wir das mal gemeinsam machen können. „Nein, bitte nicht! Die sind wichtig für mich.“ – „Aber doch nicht alle?“ – „Doch. Wissen Sie, ich höre sie mir immer wieder an, besonders am Wochenende. Dann bin ich nicht so allein.“
Von da an ging ich noch etwas öfter zu Frau G., auch mal an einem Samstag oder Sonntag. Oder ich rief sie wenigstens an. – Ulrike Jürgens