Der Wolfenbütteler Friedhof empfängt Besucher mit dem segnenden Christus und einem bunten Frühlingsgruß.

 

Ich war heute auf dem Friedhof. Der Spaziergang an der frischen Luft tat mir gut. Die Sonne wärmte. Knospende Bäume, blühende Sträucher, Frühlingsblumen in den Vorgärten – viele Boten des Lebens begleiteten mich auf meinem Weg. Und am Eingang zum Friedhof in der Lindener Straße streckte mir der segnende Christus seine Arme entgegen, umgeben von vielen Narzissen und Primeln.

Ich war heute auf dem Friedhof. Das mache ich ein paarmal im Jahr. Ich habe in Wolfenbüttel keine Grabstätten für Angehörige. Aber als Hospizbegleiterin habe ich den einen oder anderen Menschen auch hierhin begleitet. Ich mache meine Runde. Bei Herrn S. bleibe ich besonders lange. Er hatte in dieser Woche Geburtstag. Ich erinnere mich an seine Erzählungen. Als Fünfjähriger hatte er die Bombardierung Dresdens erlebt. Er musste immer weinen, wenn die Bilder von den brennenden Menschen in ihm aufstiegen.

Ich war heute auf dem Friedhof. Jedes Mal gehe ich auch zu Frau E. Sie war meine erste Begleitung. Viele ihrer Geschichten haben sich mir eingeprägt: von ihrer unbeschwerten Kindheit in Magdeburg, den schrecklichen Erlebnissen in den Kriegsjahren, dem Tod ihres geliebten großen Bruders, ihrem Weg – allein mit ihren vier Kindern – über Berlin und Friedland in unsere Gegend.

Ich war heute auf dem Friedhof. Ich hatte ein besonderes Ziel: die Grabstätte von Frau M. Heute ist ihr zweiter Todestag. Seit langem hatte ich mich für heute mit ihrer Tochter, die in Berlin lebt, verabredet. Wegen des Corona-Virus stehe ich nun alleine hier. Ich mache ein Foto – für sie. Ich denke an meine vielen Stunden mit Frau M. Sie hat kaum noch gesprochen. Aber manchmal sagte sie: „Es wird alles gut.“

Ich war heute auf dem Friedhof. Mit Frau M. denke ich: „Es wird alles gut.“

Ulrike Jürgens