Seit Monaten begleite ich eine schwerkranke 90-Jährige in einem Pflegeheim. Sie ist bettlägerig, kann sich nicht mehr bewegen, ihre Gedanken und Empfindungen nicht mehr artikulieren. Die Augen hält sie meistens geschlossen. Mit der Zeit habe ich gelernt, in ihrem Gesicht zu lesen. So zeigt sie mir auch ohne Worte, womit ich sie erreichen kann.

Oft erzähle ich ihr von ihrer Kindheit auf dem Hof in Schlesien, von ihren vier kleinen Geschwistern, von den Kirchgängen, von dem guten schlesischen Apfelkuchen… Dazu passend summe oder singe ich Lieder, bei deren Refrain sie manchmal sogar die Lippen bewegt. Ich denke mir Phantasiereisen in die Natur aus, um die Erinnerung an Bilder und Gerüche zu wecken. Und natürlich habe ich ihr das Weihnachtsfest mit Geschichten und Liedern in ihr Zimmer gebracht.

Seit einigen Wochen dringen neue Geräusche in ihre kleine Lebenswelt und überlagern manchmal meine Stimme. Dann zuckt sie jedes Mal zusammen, reißt die Augen weit auf und presst die Lippen fest aufeinander. Sie, die 9 Jahre alt war, als der Krieg begann, die mit 14 ihre schlesische Heimat verlassen musste, hört … die festen Schritte von Stiefeln! Welche bedrohlichen Bilder mögen jetzt in ihr aufsteigen…

Stiefel – auch ich liebe sie: lange und kurze, gefütterte und ungefütterte… Ich könnte sie den ganzen Winter über tragen. Ab sofort habe ich immer „leichte“ Schuhe im Auto, wenn ich zum Pflegeheim fahre. Denn: hier wohnen viele Menschen, in denen komfortable Winterstiefel schreckliche Erinnerungen an marschierende Soldaten lostreten können – im wahrsten Sinne des Wortes.

Ulrike Jürgens