Nun sind wir schon im späten Frühling angekommen. Bei meinen täglichen Radtouren halte ich an den Rübenfeldern Ausschau nach dem Auflaufen* der neuen Saat. Dabei kommt mir immer wieder eine Begegnung bei einer Sterbebegleitung in Erinnerung.

Herr M. wurde zu Hause gepflegt. Er war schwer krank, seine Kinder kümmerten sich liebevoll und kompetent um den Vater. Sie sorgten sich aber auch um ihre Mutter und bemühten sich beim Hospizverein um eine Begleitung.

Ich meldete mich telefonisch an und fuhr los. Der Ort lag im östlichsten Gebiet unseres Landkreises und war mir bis dahin nicht bekannt. Ich fand die Adresse, stellte mein Auto ab und betrat das Grundstück. Fünfzehn (!) Stufen musste ich hinuntersteigen. Das war nicht einfach mit meinen Arthrose-kranken Knien. Stufe für Stufe ging ich hinab.

Dort unten saß Frau M. Sie begrüßte mich und bot mir einen – für mich sehr ungünstigen – Sitzplatz an. Eine nicht ganz einfache Situation. Frau M. schilderte das Krankheitsbild ihres Mannes. Dann war ich dran.

„Hier ist es schön. Ich bin noch nie in diesem Ort gewesen.“

„Naja, hier an der ehemaligen Zonengrenze kam ja auch niemand einfach so vorbei.“

„Ach, die Zonengrenze ist mir nicht fremd. Als junge Frau habe ich am Grenzgraben Rüben gehackt.“

„Was? SIE haben Rüben gehackt?! – Das hab‘ ich auch gemacht und damit unser Heizöl bezahlt. Das ist ja toll, dass du das auch gemacht hast!“

Damit war sie beim DU: „Rübenhackschwestern duzen sich.“

Das Eis war gebrochen. Marion war nicht aufzuhalten. Sie holte Fotoalben heraus. Ich lernte ihre Kinder, ihre Familienzusammenhänge, alle Geburtstage und die Goldene Hochzeit kennen.

Nach diesem Besuch telefonierten wir täglich, bis ihr Mann starb.
Wenn ich an Rübenfeldern vorbeikomme, erinnere ich mich an unsere einzigartige Begegnung. Und ich vermute: sie auch.

Bei allen Begegnungen ist es der Augenblick, der die Beziehung prägt und sie einzigartig macht.

 

Helga Hoffmann

 

*Auflaufen bezeichnet die Phase der Pflanzenentwicklung, bei der aus den Samen die Keimlinge entstehen und an der Bodenoberfläche sichtbar werden.