Ich werde zu einer Sterbebegleitung gerufen. Die Sterbende, ihr Ehemann und die Tochter machen sich allerdings keine Sorgen um das Sterben und den Abschied. Ihnen geht es um die zehnjährige Hanna. Das Mädchen ist in einem gemeinsamen Haushalt mit den Großeltern aufgewachsen und hängt sehr an ihnen.

Die Großmutter liegt erst den ersten Tag im Bett. Sie hat das Essen und Trinken eingestellt. Wir anderen sitzen alle um den Tisch und lernen uns kennen.

Dann bleibe ich mit Hanna allein zurück. Hanna erzählt, ich höre zu. Ein Satz erscheint mir besonders wichtig: „Ich habe solche Angst, dass auch Opa sterben könnte.“ Regelmäßige Bestrahlungen geben den Sorgen eine gewisse Berechtigung.

Die Großmutter stirbt noch in dieser Nacht. Die Familie beschließt, sie noch eine Nacht im Haus zu behalten. Sie möchten in Ruhe Abschied nehmen.

Ich besuche Hanna vor der Beerdigung und auch noch einmal danach. Dann höre ich lange Zeit nichts.

Doch dann ruft unsere Koordinatorin an. Die Familie hat sich gemeldet. Was Hanna befürchtet hat, ist eingetreten. Drei Monate nach dem Tod der Großmutter hat sich auch der Opa auf den Weg gemacht. Er bereitete wie immer das Mittagessen für Hanna vor, legte sich aufs Bett und starb. Hanna fand ihren Großvater. Sie musste voller Schreck erkennen, dass ihre Ängste sich bewahrheitet hatten.

Hanna bestimmte, dass auch der Großvater eine Nacht im Haus bleiben sollte. So konnten sich alle in Ruhe von ihm verabschieden.

Bei meinem Besuch fragte ich Hanna: „Was kann ich denn jetzt für dich tun?“ Ihre Antwort: „Wie bei Oma – einfach zuhören.“

Die arme Hanna, beide Großeltern in so kurzer Zeit gestorben – so dachte ich anfangs. Aber eine Freundin widersprach: Das ist der Lauf des Lebens. Hanna ist mit ihren Großeltern groß geworden, hat sie täglich um sich gehabt. Das hat sie für ihr Leben geprägt. Und ihre konsequente Bestimmung, Opa noch eine Nacht im Haus zu behalten und sich in Ruhe verabschieden zu können, wird sie in ihrer Trauerbewältigung stärken.
(Hinweis: In den meisten Bundesländern, so auch in Niedersachsen, dürfen Verstorbene bis zu 36 Stunden zu Hause bleiben, bevor sie von einem Bestatter abgeholt werden.)

– Ho –