Neun Jahre lang war ich Einzelkind in unserer Großfamilie. Das sollte sich bald ändern. Tante Else „ist in Umständen“, sagen die Erwachsenen. Alle freuen sich mit und sind voller Erwartung.

Dann die grausame Nachricht: Das Kind ist tot, gestorben an der Nabelschnur, die sich um den Hals gelegt hat. Die Wochen bis zur Geburt sind belastend. Ich soll mich fernhalten. Tante Else mag keine Kinder sehen.

Irgendwann höre ich: „Es“ wurde in einer alten Familiengruft beerdigt, frühmorgens, „weil dann keine Leute auf dem Friedhof sind“.

Jahrzehntelang wurde nicht darüber gesprochen. Die beiden nachgeborenen Mädchen sollten davon nichts wissen.

Kurz vor seinem Tod traue ich mich, meinen Onkel auf sein Kind anzusprechen. Haben sie diesem Mädchen einen Namen gegeben? Hat er es gesehen, sich von ihm verabschiedet? Er schüttelt den Kopf. Reden will er nicht.

Wenn ich in meiner Heimatstadt unsere Familiengräber besuche, halte ich auch immer bei dieser alten Familiengruft inne. Nur ICH weiß, warum.

Seit einigen Jahren begleite ich trauernde Familien am Samstag vor dem 2. Advent auf dem Weg des Gedenkens – in Vertretung für den Hospizverein und auch als Betroffene. Ich stelle ein Licht auf ein Kindergrab, das kein Licht und keinen Blumenschmuck trägt. Dabei denke ich an meine Kusine, das Mädchen, das gestorben ist, bevor es das Licht der Welt erblickte, das Kind ohne Namen, das bei Nacht und Nebel beerdigt und jahrzehntelang totgeschwiegen wurde. MEIN Sternenkind.

Ulrike Jürgens

 

Jährliches Gedenken an die früh verstorbenen Kinder:

  • Am Samstag vor dem 2. Advent lädt die Klinikseelsorge Wolfenbüttel – in Zusammenarbeit mit dem Klinikum und dem Hospizverein – in die Friedhofskapelle zum Weg des Gedenkens ein. Das Foto zeigt die Stele auf dem Wolfenbütteler Hauptfriedhof. Sie erinnert an die Kinder, die während der Schwangerschaft gestorben sind.
  • Am zweiten Sonntag im Dezember findet das „World Wide Candle Lighting“, das weltweite Kerzenleuchten, statt. An diesem Tag stellen Angehörige und Freunde um 19 Uhr Ortszeit eine Kerze für ihr verstorbenes Kind ins Fenster. Durch die Zeitverschiebung entsteht eine Lichterwelle, die in 24 Stunden einmal um die Erde wandert.