Seit einem halben Jahr bereits begleite ich Ilse. Sie legt Wert darauf, dass wir uns duzen. Meinen Namen kann sie sich nicht merken. Für sie bin ich ihre „beste Freundin“.

Es ist daher selbstverständlich für sie, dass ich zu ihrem 90. Geburtstag komme. Sie genießt die Feier, zu der auch Kinder und Enkelkinder angereist sind. Schade nur, dass sie sich bereits am nächsten Tag nicht mehr daran erinnern kann.

Ilse lebt bei Tochter und Schwiegersohn. Ich komme jeden Mittwoch und verbringe den Nachmittag mit ihr. Drei Stunden hat sie meine ungeteilte Aufmerksamkeit und Zuneigung. Geduldig und freundlich beantworte ich ihre wiederkehrenden Fragen: „Wie alt bist Du? Hast Du einen Mann? Hast Du Kinder? Hast Du auch einen Freund?…“

Heute ist Ilse verärgert. Sie musste mit ihrer Tochter zum Arzt. Dabei ist sie doch gar nicht krank! Ich suche nach einer Erklärung:

„Hat der Arzt Dich untersucht?“ – „Nein.“
„Hat er Dir eine Spritze gegeben?“ – „Nein.“
„Hat er vielleicht Blut abgenommen?“ – „Nein.“
„Hat er Medizin aufgeschrieben?“ – „Nein.“
„Nimmst Du Medizin?“ – Wieder ein deutliches Nein! Und dann, nach einer kleinen Pause: „DU bist doch meine Medizin!“

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Gerührt nehme ich Ilse in den Arm.

Auf dem Nachhauseweg fällt mir der Titel einer Fortbildung ein: Das Herz wird nicht dement.

Ulrike Jürgens