Silvester 2003. Ich habe meinen fast 90-jährigen Vater, dessen Lebenskreis sich bald schließen wird, beizeiten zu Bett gebracht. Er ist schwerhörig, und so hoffe ich, dass er von der Knallerei nichts mitbekommt.
Als ich Mitternacht nach ihm schaue, ruft er mit angstverzerrtem Blick: „Schüsse! Die kommen näher!“ Er zittert am ganzen Körper. Ich kann ihn kaum beruhigen. Welche Erinnerungen mögen in ihm wach geworden sein? Als der Krieg begann, war er 22. Er gehört zu denen, die ohne körperliche Wunden nach sechs Jahren nach Hause kamen. Welche tiefen seelischen Wunden mag er haben?

Schätzungen gehen dahin, dass drei von vier Menschen über 65 traumatisiert sind. Das heißt: Sie haben ein Erlebnis aus dem Krieg oder der Nachkriegszeit, das als existentiell bedrohlich erfahren wurde (Tod in unmittelbarer Nähe, Todesbedrohung, Verschüttung, Vergewaltigung, Flucht, Vertreibung).

Viele Menschen stecken das traumatische Erlebnis über viele Jahre weg – bis es in der letzten Lebensphase aufbricht, dann, wenn die Kraft zur Verdrängung nachlässt. Dann können feste Schritte auf dem Flur die Erinnerung an marschierende Soldaten auslösen, eine knallende Tür kann sich wie ein Schuss anhören – und Silvesterknaller assoziieren Kanonen- oder Bombenhagel.

Als ehrenamtliche Hospizbegleiter werden wir nicht selten mit Symptomen konfrontiert, die auf ein traumatisches Erlebnis zurückzuführen sind. Dafür sensibilisiert haben wir die Möglichkeit, den Menschen zu zeigen, dass sie heute im Unterschied zu damals nicht allein sind.

Übrigens: Mit Blick auf die vielen traumatisierten Menschen unter uns, die den Zweiten Weltkrieg (oder auch andere Kriege!) erlebt haben, verzichte ich auf Silvesterknaller.

Ulrike Jürgens