Bei meinem ersten Besuch im Pflegeheim saß die 90-jährige Frau S. im Rollstuhl am Kaffeetisch. Sie hört schlecht, und so verstand sie mich nur schwer. Ich fragte sie, ob sie Lust hat, nach draußen zu fahren. Sie freute sich! Wir holten eine Jacke, denn Ende März war es noch kühl und windig. Auf den verschlungenen Wegen fuhren wir durch die Anlage ums Haus. Da gab es allerhand zu sehen. Schnell merkte ich: Ihre große Liebe gilt den Blumen.

Hinten am Zaun leuchten schon einzelne Mini-Osterglocken. Auch ein paar hellblaue Perlhyazinthen stehen in Gruppen zusammen, nahe am Weg sogar unaufdringlich einige Veilchen, und an der Sitzgruppe ist der ausgebreitete Zauber der Gänseblümchen nicht zu übersehen.

„Am allerliebsten sind mir die Gänseblümchen!“, ruft Frau S. mit heller Stimme. So sammeln wir ein kleines Frühlingssträußchen, das sie in ihrem gefalteten Taschentuch-Tütchen wie einen Schatz in den Wohnbereich trägt – für den Abendbrottisch. Aber die Enttäuschung ist groß: es gibt keine geeignete Vase für die noch kurzstieligen Blümchen. Die Gläser sind viel zu groß. Frau S. ist verstimmt.

Bei meinem nächsten Besuch bringe ich ihr langstielige Gänseblümchen mit, gut proportioniert in einem schmalen Joghurtgläschen. Doch Frau S. liegt im Bett. Es geht ihr nicht gut, und wenn sie schläft, dann schläft sie. Die Blümchen stelle ich auf den Nachtschrank und gehe.

Als ich sie wieder besuche, erinnert sich Frau S. sofort an die Gänseblümchen. Sie bedankt sich überschwänglich für die gelungene Überraschung: „Ich möchte gar keine anderen Blumen. Da fallen so schnell die Blüten ab. Am allerschönsten sind die Gänseblümchen – und die gibt es fast das ganze Jahr.“

Text: Renate Winke
Foto: Eva-Christina Galanulis

 

Buchtipp: Andrea Schwarz, Ich mag Gänseblümchen. Unaufdringliche Gedanken, Freiburg: Herder 2005
Unaufdringlich wie die Gänseblümchen sind die achtsamen Worte, die uns in einer Mußestunde bereichern können.
So manches Gänseblümchen kämpft sich durch den schäbigsten Rasen, wächst auf schlechtestem Boden mitten in der Stadt und taucht unvermutet im gepflegten Garten auf. Sind diese Zähigkeit und Widerstandskraft nicht ein starkes Symbol fürs Leben? Achten wir deshalb auf das bescheidene, unscheinbare, zauberhafte Gänseblümchen! Mit Recht wurde es 2017 als Heilpflanze des Jahres gewählt.